BREMEN IST EIN EINWANDERUNGSLAND
Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden Mustafa Güngör zu TOP: Aktuelle Stunde „Bremen und Bremerhaven sind weltoffene und multikulturelle Städte. Wir wollen ein modernes Zuwanderungs-, Aufenthalts- und Einbürgerungsrecht und erteilen Ausgrenzung, Spaltung und Polemik eine Absage.“
Bremische Bürgerschaft, 7. Dezember 2022
– Es gilt das gesprochene Wort! –
__________________________________________________________________________________
Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin deutscher Staatsbürger. Und:
ist das leider überhaupt nicht selbstverständlich.
Denn ich bin ein Kind türkischer Einwanderer – ein klassisches Gastarbeiterkind. Und als junger Mann stand ich vor einem Dilemma:
Ich musste mich entscheiden. Und ich entschied mich für den deutschen Pass.
Hätte ich mich anders entschieden, könnte ich hier heute gar nicht zu Ihnen sprechen. Ich hätte weder das aktive noch das passive Wahlrecht. Ich wäre Bürger zweiter Klasse. Ein Gast – obwohl ich hier geboren bin.
Und obwohl ich meine Entscheidung nicht bereue, macht es mich bis heute wehmütig, wenn ich als vermeintlicher Gast in die Türkei einreisen muss. In ein Land, in dem meine Geschwister leben, dessen Sprache meine Muttersprache ist und in dem mein Vater seine letzte Ruhe gefunden hat.
40 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dieses sogenannte Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit, das mich damals gezwungen hat, zwischen zwei Pässen zu entscheiden, trifft nach wie vor Tausende von Menschen in Bremen und Bremerhaven.
Ja, mehr noch: Die Tendenz bleibt auf Dauer steigend – denn Bremen ist ein Einwanderungsland!
Meine Damen und Herren, wir alle kennen den historischen Hintergrund. Seit den 60er Jahren sind Millionen von Menschen zu uns nach Deutschland gekommen – und geblieben:
Teilhabe stärkt Demokratie
Kolleginnen und Kollegen:
Das ist die Realität. Und dass es vor diesem Hintergrund in unseren beiden Städten immer mehr Menschen ohne deutschen Pass gibt, ist für unsere parlamentarische Demokratie inzwischen ein gravierendes Problem:
Ich frage mich: Welche Legitimation haben wir als Abgeordnete in einer Demokratie, wenn immer mehr Menschen nicht wählen können?
Und trotzdem müsste jemand wie meine Mutter für ihre Einbürgerung Sprach- und Landeskenntnisse nachweisen, die so manch anderer ohne Migrationsgeschichte nicht vorweisen kann. Und trotzdem müsste jemand wie meine Mutter ihre bisherige Staatsbürgerschaft aufgeben – und das allein, um Wählen gehen zu dürfen. Und für meinen Vater galt das Gleiche.
Ich frage mich:
Kolleginnen und Kollegen: Staatsbürgerschaft und Wahlrecht sind wichtige Instrumente demokratischer Teilhabe. Gleichzeitig sind sie aber auch die Voraussetzung für eine starke Legitimation unserer Demokratie. Und deshalb gibt es hier dringenden Handlungsbedarf!
Fremdes wird Bereicherung
Meine Damen und Herren,
unsere Gesetzgebung hat sich in den letzten Jahrzehnten nur behäbig an die skizzierten Lebensrealitäten angepasst. Das ist, wie ich finde, kein Ruhmesblatt.
Doch: Es ist auch nachvollziehbar. Denn Regeln und Gesetze werden von Menschen gemacht. Und Menschen brauchen Zeit; offenbar viel Zeit, um zu erkennen, dass das zunächst „Fremde“ zu einer wahren Bereicherung werden kann – ob in gesellschaftlicher, kultureller oder eben justizieller Hinsicht. Ich finde, diese Erkenntnis ist der Dreh- und Angelpunkt, worüber wir heute reden. Es ist doch so:
Und vor diesem Hintergrund gibt es gute Nachrichten: Die SPD-geführte Bundesregierung bringt jetzt – nach 16 Jahren Merkel – Reformen auf den Weg, die den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in unserem Land endlich gerecht werden!
Bundesregierung schafft Reformen
Meine sehr geehrte Damen und Herren,
letzten Freitag wurde im Deutschen Bundestag das Chancenaufenthaltsrecht für Geduldete verabschiedet. Damit erhalten langjährig Geduldete die Chance, ein Bleiberecht zu erlangen.
Und an dieser Stelle will ich etwas tun, was ich wirklich ungern tue: Ich will die Bremer CDU loben – oder zumindest Teile davon. Unser ehemaliger Bürgerschaftskollege Thomas Röwekamp war im Bundestag aus den Reihen der Christdemokraten einer der Wenigen, die die Courage hatten, sich bei der Abstimmung zum Chancenaufenthaltsrecht gegen Friedrich Merz und die Ewiggestrigen zu stellen.
Die Lebensrealität ist eben manchmal eine andere als es die Ideologie gerne hätte, meine Damen und Herren!
Vernunft anstatt gefühlter Fakten
Die Bundesregierung wird noch zwei weitere wichtige Vorhaben auf den Weg bringen.
Zum einen das Fachkräfteeinwanderungsgesetz:
Besonders hervorheben möchte ich aber die geplanten Änderungen zum Staatsangehörigkeitsgesetz.
Danach sollen ERSTENS: Menschen nicht mehr nach acht, sondern nach fünf Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen können. Im Einzelfall sogar nach drei Jahren.
Es soll ZWEITENS: Die doppelte Staatsbürgerschaft vollständig ermöglicht werden.
Und es sollen DRITTENS: Menschen im Rentenalter Erleichterungen beim Sprach- und Einbürgerungstest bekommen.
Diese Gesetze bzw. Gesetzesvorhaben der Bundesregierung sind also in vielerlei Hinsicht richtig und wichtig:
Einigkeit der Demokraten
Und damit, meine Damen und Herren, komme ich zu meinem Kernanliegen, weshalb wir hier heute diese Aktuelle Stunde einberufen haben.
Der Diskurs, der in den letzten Wochen zu den Gesetzesvorhaben der Bundesregierung geführt wurde, hat mich betroffen gemacht – zumindest zum Teil. Denn alte fremdenfeindliche Klischees und Schlagworte wurden von unterschiedlichen Seiten wieder aus der Mottenkiste geholt.
Und ich finde, die Bremische Bürgerschaft muss sich dieser Polemik entschieden entgegenstellen.
Wir in Bremen und Bremerhaven, wir als Bremische Bürgerschaft, wir als Vertreterinnen und Vertreter des Volkes, müssen hier und heute Einigkeit demonstrieren:
Wir lassen uns nicht einfangen von den immer wieder gestreuten Ressentiments gegen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Denn dahinter steht immer und ausschließlich das hässliche Gesicht des Rassismus!
Ich danke Ihnen.
SPD-Bürgerschaftsfraktion
Land Bremen
Wachtstraße 27/29
28195 Bremen
Tel: 0421 336 77 0
E-Mail: info@spd-fraktion-bremen.de