
Dringlichkeitsantrag der Fraktionen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE
Die Europäische Einigung ist nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges als Friedensprojekt entstanden. Nach schlimmsten deutschen Verbrechen und unüberwindbar scheinenden Gräben in Europa gelang es, ehemalige Feinde zu versöhnen und Schritt für Schritt eine gemeinsame europäische Zukunft zu gestalten: von der „Schuman-Erklärung“ am 9. Mai 1950, die eine Zusammenlegung der französischen und der deutschen Kohle- und Stahlproduktion anstrebte, bis hin zur Europäischen Union des Jahres 2024 wurde ein weiter Weg zurückgelegt! Heute – 20 Jahre nachdem im Rahmen der größten Erweiterung der EU neben Malta und Zypern sieben Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes der EU beitraten – verkörpert Europa nach wie vor für viele Menschen die Hoffnung auf Frieden, Solidarität und Demokratie.
Auch wenn der Anfang stark im Zeichen der Industrie und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit stand: Schon die Römischen Verträge von 1957 sahen vor, dass die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten weit über den rein wirtschaftlichen Bereich hinausgehen sollte, um insbesondere „durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen“, sowie „die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben“. Es ist diese europäische Idee, die bis heute Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa sichert. Zugleich entwickelt sich das Europäische Einigungsprojekt, auch unter der Einwirkung verschiedener Krisen, stetig weiter.
Einhergehend mit der Schaffung und der Vertiefung des Binnenmarkts, , hat insbesondere der Ausbau der vier Grundfreiheiten das Leben der Menschen in der Europäischen Union positiv verändert. Das gilt insbesondere für die Personenfreizügigkeit, durch die die Mobilität der EU-Bürger:innen über die Jahre eine immer größere Bedeutung gewonnen hat. So können heute alle EU-Bürger:innen über die gesamte Europäische Union hinweg reisen, sich austauschen und sich weiterbilden. Der Brexit zeigte leider, dass solche Errungenschaften keine unumkehrbaren Selbstverständlichkeiten sind. Sie bilden jedoch weiterhin die Grundlage für ein Zusammenleben in Verständigung und Gemeinschaft und müssen daher weiter gestärkt werden. Deutschland profitiert davon wie kein anderes Land.
Gleichzeitig entstanden damit neue Herausforderungen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, die eine engere Zusammenarbeit im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik erforderlich machten, etwa durch die Umsetzung der im Jahr 2017 von Rat, Parlament und Kommission vereinbarten Europäischen Säule Sozialer Rechte und der jetzt am 16. April 2024 unterzeichneten gemeinsamen „La Hulpe“-Erklärung.
Die Ausbildung von gemeinsamen Grundwerten und Grundrechten, die insbesondere seit Inkrafttreten der EU-Grundrechtecharta im Jahr 2009 zunehmend an Fahrt aufgenommen haben, stärken bei den Menschen in Europa das Bewusstsein für die uns verbindenden Grundprinzipien von Demokratie, sozialem Ausgleich und Rechtsstaatlichkeit. Die staatliche Gängelung unabhängiger Medien und die Aushöhlung der Gewaltenteilung, die in jüngerer Vergangenheit leider von einzelnen Regierungen betrieben werden, bedrohen die Substanz eines demokratischen Gemeinwesens. Die EU hat sich 2020 mit der Einführung des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus entscheidend weiterentwickelt, um ihre Integrität als demokratische Staatengemeinschaft zu erhalten. Zugleich zeigt insbesondere die Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik, wie schwierig und kontrovers politische Entscheidungsfindungen auf europäischer Ebene sein können.
In den letzten Jahren sind wichtige Schritte erfolgt, um weitere Staaten in diese Gemeinschaft aufzunehmen. Neben Bosnien und Herzegowina erhielten die Ukraine und Moldau 2022 den Status von Beitrittskandidaten. Mit den EU-Kandidaten Albanien und Nordmazedonien wurden im Jahr 2022 bereits die Beitrittsgespräche aufgenommen. Durch die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine ist das Friedensprojekt Europa in einer Art und Weise herausgefordert, die bis vor Kurzem unvorstellbar war. Die Mitgliedsstaaten der EU sind durch ihre fortdauernde humanitäre, finanzielle und militärische Unterstützung für die überfallene Ukraine dieser Zeitenwende entschlossen begegnet.
Auch das Land Bremen braucht Europa und lebt die europäische Idee: Das gilt für unsere beiden Städte etwa in wirtschaftlicher Hinsicht, denn sie sind Handels- und Logistikstandorte, die ohne die Europäische Union und den Binnenmarkt sehr beeinträchtigt würden. Gesellschaftliche Anstrengungen zur solidarischen Aufnahme und Unterstützung tausender Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen mussten, sind zudem Ausdruck des europäischen Selbstverständnisses unseres Landes.
Das Land Bremen engagiert sich in zahlreichen europäischen Verbünden, Netzwerken und Kooperationen auf allen Ebenen des Landes, in Verwaltung und Parlament, in Unternehmen oder Wissenschaftseinrichtungen, in Vereinen oder gesellschaftlichen Organisationen. Bremen und Bremerhaven profitieren durch Programme wie den ESF+, den EFRE und den ELER in hohem Maße von der europäischen Strukturpolitik. Europäische Fördergelder fließen in Millionenhöhe in Forschung, Bildung, Wirtschaft, Städtebau und Umweltschutz. Auch das Wiederaufbauprogramm der EU, das die Mitgliedsstaaten in Reaktion auf die Corona-Pandemie geschaffen haben, kam Bremen zugute.
Mit der Beteiligung der Universität Bremen an „Young Universities for the Future of Europe“ (YUFE) und der Hochschule Bremen an der „Strategic Alliance for Regional Transition“ (STARS) ist der Hochschulstandort Bremen – europaweit einmalig – nicht nur an einer, sondern sogar an zwei innovativen Europäischen Hochschulallianzen beteiligt. Der Hochschulstandort Bremen setzt damit auch ein Zeichen für die Bedeutung von Austausch, Vielfalt und einer Europäischen Identität für Wissenschaft und Forschung in Bremen und europaweit.
Gleichzeitig braucht es in Zeiten vielschichtiger Krisen, die auch vor dem europäischen Kontinent nicht Halt machen, heute mehr denn je ein starkes Europa, das zusammenhält und Herausforderungen gemeinsam und zum Nutzen aller bewältigt. Dabei ist es wichtig, immer wieder deutlich zu machen, dass die komplexen Krisen denen wir ausgesetzt sind, von einzelnen Nationalstaaten nicht gelöst werden können. Nur innerhalb der Europäischen Union wird es uns möglich sein, die großen Herausforderungen unserer Zeit – vom Klimakrise und der Sicherung unserer Energieversorgung über Digitalisierung und Migration bis hin zur Sicherung unserer Gesellschaften gegen militärische und hybride Bedrohungen – zu bewältigen. Die EU hat, trotz aller Schwierigkeiten, gerade in den letzten Jahren wiederholt bewiesen, dass sie dazu in der Lage ist.
Wenn vom 6.-9. Juni 2024 alle Europäer:innen erneut die Möglichkeit haben, durch Wahl des Europäischen Parlaments die künftige Richtung der Europäischen Union mitzugestalten, steht darum auch viel auf dem Spiel. Insbesondere gilt es, demokratiefeindlichen und nationalistischen Kräften in Bremen, Deutschland und Europa eine Absage zu erteilen. Ihre autoritären Ideen würden nicht nur die Fähigkeit der EU schwächen, mit den großen Krisen der Gegenwart umzugehen. Sie widersprechen auch den freiheitlichen Werten der europäischen Einigung. In Deutschland fantasieren Rechtsextreme über die massenhafte Deportation deutscher Staatsbürger:innen und hier lebender Migrant:innen, sie führen die Öffentlichkeit durch Desinformationskampagnen in die Irre und hetzen gezielt gegen die Schwächsten in der Gesellschaft. Unter dem Deckmantel der „Wut“ und durch Instrumentalisierung realer Sorgen schüren sie gezielt Ressentiments und bedienen menschenfeindliche Stereotype.
Die Menschen im Land Bremen haben in zahlreichen Demonstrationen eindrucksvoll bewiesen, dass sie diese Gesinnung und die darin beschworenen völkischen Fantasien nicht tolerieren oder teilen. Im Gegenteil: Das Land Bremen braucht Vielfalt, Mobilität und Vernetzung. Das Land Bremen braucht Europa und die europäische Union.
Bei allem erzielten Fortschritt sind aber weitere Reformen notwendig, um die Rolle der Europäischen Union im weltweiten Wettbewerb der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme zu stärken, und auch, um sie für weitere Erweiterungen, die in ihrem ureigenen Interesse liegen, aufnahmefähig zu machen. Insbesondere sollte die demokratische Rückbindung zu den EU-Bürger:innen weiter verbessert werden.
Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:
Antje Grotheer, Mustafa Güngör und Fraktion der SPD
Dr. Emanuel Herold, Dr. Henrike Müller
und Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Cindi Tuncel, Sofia Leonidakis und Fraktion DIE LINKE
SPD-Bürgerschaftsfraktion
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