Als kollektive Regelwerke für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen in ihrem Geltungsbereich legen Tarifverträge verlässlich und umfassend die wichtigsten Arbeitsbedingungen fest. Sollen gesetzliche Mindestregelungen wie der Mindestlohn vorrangig nur die Ausfransung der Bedingungen am Arbeitsmarkt nach unten hin verhindern, treffen Tarifverträge demgegenüber regelmäßig weitergehende Regelungen beispielsweise von Löhnen, Arbeitszeit und Urlaub oder betrieblicher Altersvorsorge. Sie helfen auf diese Weise, die Zahl der arbeitsgerichtlichen Streitfälle zu verringern. Gelten die Vorgaben als Flächentarifvertrag wird zudem ein fairer, qualitätsorientierter Wettbewerb zwischen den Unternehmen befördert. Der DGB hat ausgerechnet, dass das Bundesland Bremen voraussichtlich 126 Millionen Euro mehr Einkommenssteuer im Jahr 2019 einnehmen könnte, wenn alle Arbeitnehmer*innen nach Tarif bezahlt würden. Auch auf die Gleichstellung der Geschlechter wirken sich Tarifverträge positiv aus. Nach einer Erhebung der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2015 erhöht sich der Bruttostundenlohn von Frauen in tarifgebundenen Jobs um 9,2 Prozent, bei Männern um immer noch erhebliche 6,6 Prozent.
Trotz der Bedeutung von Tarifverträgen für die bundesdeutsche Wirtschafts- und Sozialordnung ist die Tarifbindung in Deutschland allerdings rückläufig. In Bremen waren laut Arbeitnehmerkammer 2008 noch 67 Prozent der Beschäftigten von einem Tarifvertrag umfasst, 2017 waren es nur noch 55 Prozent. Hinsichtlich der Zahl der Betriebe wird deutlich, dass sich diese Bindung maßgeblich auf die großen Betriebe der Industrie und des öffentlichen Sektors stützt: die betriebliche Tarifbindung sank von 39 Prozent im Jahr 2008 auf nur noch 20 Prozent im Jahr 2017.
Die jüngste Neufassung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (Entsenderichtlinie) bietet daher eine gute Grundlage dafür, die Anforderungen an die Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu überprüfen und die Tariftreue zu stärken. Nach der Entsenderichtlinie, die bis zum 30. Juli 2020 in deutsches Recht umgesetzt werden muss, ist das komplette Arbeitsrecht des jeweiligen Gastlandes für langzeitentsandte Arbeitnehmer*innen anzuwenden.
Das Land Bremen kann die Tarifbindung unter anderem über die Forderung von Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge stützen. Eine Option für die Ausweitung der Tariftreue kann sich für die Bundesländer aus Artikel 3 Absatz 8 der Richtlinie durch die Möglichkeit ergeben, in ihren Vergabegesetzen den entsendenden Unternehmen die Anwendung von Tarifverträgen aufzugeben. Voraussetzung ist, dass die jeweiligen Tarifverträge zumindest faktisch allgemein wirksam sind. Somit kann eine Tariftreuevorgabe für alle inländischen Unternehmen über die jeweils einschlägigen Tarifverträge für den Bereich der Leistungen im Rahmen öffentlicher Auftragserbringung faktisch verankert werden. Ohne eine solche Vorschrift hätten nicht-tarifgebundene Unternehmen im Wettbewerb um öffentliche Aufträge einen strukturellen Vorteil gegenüber tariftreuen Unternehmen. In der Vergangenheit wurde die Möglichkeit der Länder zur Vorgabe von Tariftreue durch die Rechtsprechung des EuGH (Rüffert-Urteil) allerdings stark eingeschränkt. Aus diesem Grund haben viele Bundesländer wie auch Bremen über das Landesmindestlohngesetz in Verbindung mit dem Tariftreue- und Vergabegesetz vergabespezifische Mindestlöhne als verbindliche Lohnuntergrenze eingeführt.
Bremen hat bereits in der Vergangenheit den beschränkten Spielraum ausgeschöpft, weitergehende Tariftreue-Anforderungen zu stellen. Diese sind auf den ÖPNV sowie Bauaufträge begrenzt, solange letztere noch unterhalb des Schwellenwertes für die EU-Binnenmarktrelevanz liegen. Die jüngste Neufassung der EU-Entsenderichtlinie legt auf Druck der europäischen Sozialdemokratie nunmehr die Grundlage dafür, wieder umfassendere Anforderungen an die Tariftreue bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zuzulassen.
Wir fragen den Senat:
1. Welche rechtlichen Anpassungen sind bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nach der Einführung der Unterschwellenvergabeverordnung und der Neufassung der EU-Entsenderichtlinie nach Rechtsauffassung des Senats erforderlich und möglich? Inwieweit geht der Senat insbesondere davon aus, Tariftreuevorgaben künftig auf alle Bau-, Liefer- und Dienstleistungen anwenden zu können?
2. Hält der Senat einen Schwellenwert für die Anwendung ausgeweiteter Tariftreuevorgaben für erforderlich, um einen verhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zu gewährleisten? Wenn ja, in welcher Höhe kann dieser aus Sicht des Senats festgelegt werden, ohne die angestrebte Stärkung der Tarifbindung signifikant zu beeinträchtigen?
3. Welche einzelnen Tarifvertragsbestandteile (wie Lohngitter des Tarifvertrages, Urlaubstage, Arbeitszeit, betriebliche Altersvorsorge) sollten nach Auffassung des Senats in Abwägung des Ziels der Stärkung der Tarifbindung einerseits und eines verhältnismäßigen Verwaltungsaufwandes andererseits in ausgeweitete Tariftreuevorgaben aufgenommen werden?
4. Zu wann können aufgrund der Neufassung der Entsenderichtlinie Novellen landesrechtlicher Tariftreuebestimmungen frühestens in Kraft treten? Inwieweit ist hierfür die Umsetzung der Richtlinie in Bundesrecht erforderlich?
5. Zu wann beabsichtigt der Senat, der Bürgerschaft einen Gesetzentwurf zur Novelle des Bremischen Tariftreue- und Vergabegesetzes vorzulegen?
6. Wie bewertet der Senat die Aufnahme von Tarifbindung als Kriterium für die Vergabe von Mitteln der Wirtschaftsförderung? Beabsichtigt der Senat an dieser Stelle, die Tarifbindung künftig als Kriterium anzuwenden und welche Rechtsgrundlagen sind hierfür gegebenenfalls zu ändern?
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