Unsere politische Arbeit für
Bremen & Bremerhaven

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Die Linke und der SPD

 

 

Die Zahl der jungen Menschen, die von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen sind, steigt seit Jahren rasant an. Neue Studien belegen, dass etwa 44.000 junge Menschen unter 27 Jahren in Deutschland auf der Straße leben – circa 2000 von ihnen sind minderjährig. Angesichts der vielfachen Herausforderungen der letzten Jahre ist anzunehmen, dass aktuell eher mehr junge Menschen in Wohnungs- und Obdachlosigkeit leben oder davon bedroht sind. Gesellschaftliche Veränderungen mit zunehmender allgemeiner Verunsicherung resultierend aus multiplen Krisen in den vergangenen Jahren, familiäre Zerwürfnisse, fehlendem Wissen über Hilfsangebote und Betreuungsangebote für junge Menschen, die nicht in ihren Familien leben können, sowie der Mangel an bezahlbarem Wohnraum, spitzen die Situation zu. Die bundesweit aktive Stiftung „Off Road Kids“ macht unermüdlich auf die Lebenssituation junger Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, aufmerksam und versucht mit der Hilfe von Sozialarbeiter*innen bestmöglich, individuell tragfähige Lebensperspektiven zu erarbeiten. Auch das ESF-Plus-Bundesprogramm „JUGEND STÄRKEN: Brücken in die Eigenständigkeit“, welches derzeit auch in Bremen durchgeführt wird, zielt darauf ab, entkoppelte junge Menschen zu erreichen und in die Lage zu versetzen, ein selbstständiges Leben zu führen. Doch längst nicht alle jungen Menschen mit Hilfebedarf werden durch solche Projekte erreicht.

Bereits jetzt gibt es im regulären Angebots- und Hilfesystem zahlreiche mögliche Berührungspunkte mit dieser Zielgruppe. Die Angebote der Jugendsozialarbeit (z.B. Mobile Jugendarbeit oder Fachberatung Jugendhilfe in der Jugendberufsagentur) und der offenen Kinder- und Jugendarbeit (z.B. Jugendfreizeiteinrichtungen) können viele dieser jungen Menschen (bewusst oder unbewusst) zumindest zeitweise erreichen sowie beraten und Kontaktmöglichkeiten bieten, die ins Hilfe- und Unterstützungssystem führen können. Das dort vorhandene fachliche Wissen um die Lebenslagen junger Menschen ist eine wichtige Grundlage, sollte aber hinsichtlich der Bekämpfung von Obdachlosigkeit und prekären Lebensverhältnissen bei jungen Menschen noch stärker ausgebaut, systematischer vernetzt und mit spezialisierten Angeboten und der regulären Jugendhilfe sowie rechtskreisübergreifenden Angebotsstrukturen (z.B. Jugendberufsagentur – SGB II und SGB III) verknüpft werden. Gleichzeitig muss der Zugang zur Jugendhilfe, sofern pädagogisch angezeigt, auch bei volljährigen jungen Menschen zwischen 18 und 21 Jahren – insbesondere bei (drohender) Obdachlosigkeit – stärker fokussiert und geöffnet werden.

So kann aus einem bewährten und den jungen Menschen oft schon bekannten System bestehendes Vertrauen genutzt und ein niedrigschwelliger Zugang zu weiterführender Unterstützung geschaffen werden.

Auf Nachfragen der Koalitionsfraktionen wurde deutlich, dass über die Situation jugendlicher Obdachloser in Bremen wenig bekannt ist. Die genauen Zahlen sind schwer zu erheben, da ein großes Dunkelfeld besteht. Dass viele von ihnen zwar oft eine Meldeadresse, aber keinen festen Aufenthaltsort haben, verschleiert ihre Situation zusätzlich und erschwert ihre Erreichbarkeit durch das Hilfe- und Unterstützungssystem.

Nicht nur für junge Menschen ist die Straße ein hochgradig gefährliches Umfeld. Die Gefährdung durch Einsamkeit, Verwahrlosung, Sucht und Infektion, als auch Opfer von Straftaten zu werden, steigt mit der Dauer des Lebens auf der Straße. Untersuchungen zeigen, dass sich die betroffenen jungen Menschen von Familie und Institutionen abgewandt haben. Sie ziehen als sogenannte Sofahopper*innen durch ihr Umfeld aus Bekannten oder leben auf der Straße. Für die Psyche eines jungen Menschen ist es prägend, wenn sie das Gefühl haben, sich weder auf ihre Familie noch auf das Hilfesystem verlassen zu können. Missbrauchserfahrungen verstärken dieses Gefühl noch. Es braucht daher niedrigschwellige Zugänge zum Hilfesystem. Andere Kommunen bieten hierfür sogenannte Sleep-Inns, die jungen Menschen kurzzeitig einen anonymen und sicheren Ort für die Nacht und darüber hinaus begleitete Zugänge zum Hilfesystem anbieten.

Besonders junge Frauen in der Übergangsphase zur Volljährigkeit geraten häufig aus dem Blick, da ihr Weg in ein eigenständiges Leben mit besonderen Risiken verbunden ist. Diese ergeben sich unter anderem aus patriarchalen Strukturen in Familien und Gesellschaft, die den Schritt in die Selbstständigkeit zusätzlich erschweren. Dies führt dazu, dass sie in der Regel weniger im öffentlichen Raum präsent sind und daher beispielsweise seltener von Streetworkern oder anderen Hilfeangeboten angesprochen werden. Sie leben häufig in prekären „Couch-Surfing“-Verhältnissen oder in unsicheren Beziehungen, um einer sichtbaren Obdachlosigkeit zu entgehen. Diese verdeckte Obdachlosigkeit macht sie besonders anfällig für Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch. Das vorhandene Dunkelfeld ist daher bei dieser Zielgruppe besonders groß. Wenn das Hilfesystem hier nicht frühzeitig erfolgreich interveniert, kann sich die Spirale aus Prekarität, Vereinsamung und Gefahr zu einer unheilvollen Karriere aus Sucht, Beschaffungskriminalität und sexualisierter Ausbeutung verstetigen – mit fatalen Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft.

Momentan werden lediglich die jungen Menschen erfasst, die Hilfe suchen und sich etwa bei der Zentralen Fachstelle Wohnen (ZFW) melden – 2024 waren das 47 junge Frauen und 68 junge Männer. Wie viele Jugendliche und junge Erwachsene aber tatsächlich in hoch prekärer Situation leben, kann nur grob über die Kooperation mit den beteiligten wohnortnahen und zielgruppenspezifischen Anlaufstellen und Streetworker*innen eingeschätzt werden. Ziel muss es sein, diese jungen Menschen besser zu erreichen, um ihnen langfristig ein selbstbestimmtes Leben in psychischer Stabilität, mit voller gesellschaftlicher Integration und beruflicher und finanzieller Eigenständigkeit zu ermöglichen.

 

Die Stadtbürgerschaft möge beschließen:

Die Stadtbürgerschaft fordert den Senat auf,

 

  1. sicherzustellen, dass die reale Situation von obdachlosen oder von Obdachlosigkeit bedrohten Minderjährigen besser erfasst, kontinuierlich beobachtet und Handlungsbedarfe frühzeitig erkannt werden. Dafür soll eine geeignete Form der Zusammenarbeit zwischen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe, der zuständigen Fachabteilung im Ressort, dem Amt für Soziale Dienste sowie weiteren relevanten Akteuren etabliert bzw. weiterentwickelt werden;
  1. das gesamte Trägersystem – Jugendsozialarbeit einschließlich Schulsozialarbeit, offener Kinder- und Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung sowie Jugendberufsagenturen – stärker für die Zielgruppe der von Wohnungslosigkeit bedrohten und obdachlosen Jugendlichen zu sensibilisieren. Dazu sollen vorhandene fachliche Kompetenzen erweitert, Fortbildungsangebote geschaffen und verbindliche Kooperationsstrukturen zwischen den beteiligten Bereichen gestärkt werden, um betroffene junge Menschen frühzeitig zu erkennen und passgenauer zu unterstützen;
  1. mit den Trägern zu erörtern, wie niedrigschwellige, zielgruppenspezifische, geschlechts- und queersensible Angebote für junge Menschen geschaffen werden können, die von der stationären Jugendhilfe (noch) nicht erreicht werden, wie zum Beispiel ambulante Angebote oder Streetwork. In diesem Rahmen soll auch geprüft werden, ob ein Sleep-Inn für wohnungslose Jugendliche und junge Volljährige eine fachlich sinnvolle niedrigschwellige Unterbringungsform und eine Brücke in die Jugendhilfe darstellen kann und wie dieses SGB VIII-konform auszugestalten wäre;
  1. für junge Volljährige im Alter von 18 bis 21 Jahren mit Jugendhilfebedarf einen gezielteren und niedrigschwelligen Zugang zum Jugendhilfesystem zu ermöglichen;
  1. das bestehende System der Wohnungslosenhilfe stärker um die spezifischen Bedarfe junger Volljähriger zu erweitern und durch gemeinsame Schnittstellen mit der Jugendhilfe zu ergänzen: Dabei gilt es, die Situation junger volljähriger Frauen besonders zu berücksichtigen; und hierbei zu prüfen,
    1. ob und wie eine bessere räumliche Trennung von Notunterbringungsplätzen für junge Erwachsene und für lebenserfahrenere wohnungslose Menschen möglich ist, um ihnen mehr Schutzräume bieten zu können;
    2. wie sich die Verfügbarkeit von oder Vernetzung mit niedrigschwelligen psychosozialen Angeboten im Rahmen der Notunterbringung darstellt;
  1. in der städtischen Deputation für Soziales, Jugend und Integration zwölf Monate nach Beschlussfassung über den Fortschritt zu berichten.

 

 

 

Sahhanim Görgü-Philipp, Dr. Emanuel Herold
und Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dariush Hassanpour, Sofia Leonidakis, Nelson Janßen und Fraktion Die Linke
Selin Arpaz, Katharina Kähler, Mustafa Güngör und Fraktion der SPD