BREMISCHE BÜRGERSCHAFT Drs. 20/
Landtag 03.12.2019
20. Wahlperiode
Dringlichkeitsantrag der Fraktionen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE
Arbeitslosengeld II grundsätzlich überarbeiten!
Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. November 2019 Sanktionen gegen die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II teilweise für verfassungswidrig erklärt. Bei Verstößen gegen die Auflagen seien maximal Kürzungen um 30 Prozent der Leistungen möglich, urteilte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, und dies auch nur nach konkreter Prüfung des Einzelfalls. Bisher sind Abzüge um 60 oder sogar 100 Prozent erlaubt gewesen. Die Richter*innen haben auch die Pflicht zur Sanktion und starre zeitliche Regelungen stark eingeschränkt. Dadurch erhalten die Jobcenter einen größeren Ermessensspielraum, können und sollen besser auf die Betroffenen eingehen und müssen nicht mehr zwingend mit Sanktionen reagieren.
Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ein klarer Auftrag an den Bundesgesetzgeber dafür zu sorgen, dass der Sozialstaat für alle Menschen, die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben schafft. Dazu gehört zwingend die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Einschränkung von Sanktionen gegen die Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II. Sanktionen dürfen nicht dazu führen, dass Menschen in ihrer physischen und soziokulturellen Existenz gefährdet werden. Einschränkungen des Existenzminimums sind kontraproduktiv, denn sie führen dazu, dass Teilhabe und Integration in das Erwerbsleben verhindert werden. Daher ist die Abschaffung von Kürzungen der Wohn- und Heizkosten mindestens genauso notwendig wie die Verhinderung von vollständigen Streichungen der Bezüge!
Auch die besonders strengen Regelungen für unter 25-Jährige müssen im Rahmen der jetzt notwendigen gesetzlichen Neugestaltung der Erwerbslosensicherung abgeschafft werden. Existenzgefährdende Maßnahmen mit Bestrafungscharakter helfen Jugendlichen nicht dabei, sich erfolgreich in Arbeit und Ausbildung zu integrieren – eher im Gegenteil! Insgesamt werden flexible Regelungen benötigt, die den konkreten Lebenssituationen gerecht werden und die es dem Jobcenter ermöglichen, die so gewonnenen Spielräume im Sinne der von längerfristiger Erwerbslosigkeit betroffenen Menschen zu nutzen.
Bereits mit einem Antrag vom 22. August 2018 (Drs. 19/1790) hat die Bremische Bürgerschaft den Senat aufgefordert, auf der Bundesebene aktiv zu werden und eine faire und realistische Berechnung des Existenzminimums sowie eine Entschärfung der Sanktionen durch das Jobcenter durchzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit seinem Urteil nicht mit der Höhe des zu gewährleistenden Existenzminimums befasst. Im Zuge der notwendigen Neuregelungen ist es aber notwendig, dieses endlich auf realistischer Basis zu berechnen.
Dies kann aber nur ein erster Schritt sein, denn die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist auch ein weiterer klarer Auftrag: Das Arbeitslosengeld II muss dringend weiterentwickelt werden. Auf Bundesebene sind nun schnell neue rechtliche Grundlagen zu schaffen. Dabei sind zuerst die gesamten Regelungen und Sanktionsmöglichkeiten beim Arbeitslosengeld II grundlegend zu überarbeiten und nicht nur in den Fällen einer sogenannten Pflichtverletzung zu entschärfen. Grundsätzlich gehören alle Sanktionen auf den Prüfstand. Das Bundesverfassungsgericht hat nun Vorgaben gemacht, auf deren Basis gehandelt werden muss.
Das Bundesverfassungsgericht hat zudem deutlich gemacht, dass den Menschen Angebote gemacht werden müssen, die ihnen tatsächlich helfen, ihre Existenz selbst zu sichern. Der Sozialstaat muss die Einzelnen und ihre jeweiligen Schicksale respektieren. Er muss Instrumente schaffen, die den individuellen Anforderungen und unterschiedlichen Problemstellungen der Menschen gerecht werden. Denn die Leistungen unseres Sozialstaats sind soziale Rechte, die den Menschen zustehen. Sie sind Inhaber*innen dieser Rechte, keine Bittsteller*innen. Statt erwerbslose Menschen unter Druck zu setzen, muss ihre Eigenverantwortlichkeit unterstützt werden. Dazu gehören beispielsweise eine Ausbildungsvermittlung ohne Zuständigkeitswirrwarr, Gesundheitsförderung, Schulden- und Suchtberatung sowie gute Unterstützungsangebote für Alleinerziehende.
Die Bürgerschaft (Landtag) möge beschließen:
1. Die Bürgerschaft (Landtag) erachtet die Überwindung von „Hartz IV“ für erforderlich, um das System der Arbeitslosenversicherung und der der Grundsicherung grundlegend zu reformieren. Ziel soll sein, ein bedarfsgerechtes und würdevolles Existenzminimum zu garantieren sowie Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Existenz selbst zu sichern. Dazu sind Instrumente zu schaffen, die den individuellen Anforderungen und unterschiedlichen Problemstellungen gerecht werden;
2. Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf, sich auf Bundesebene im Rahmen der SGB-II-Reform und darüber hinaus für folgende Verbesserungen einzusetzen:
a) dass das Existenzminimum und damit auch die Unterkunftskosten grundsätzlich nicht gekürzt werden;
b) dass insbesondere keine Sanktionen bei Bedarfsgemeinschaften mit Kindern vorgenommen werden;
c) dass die verschärften Sanktionen gegen junge Menschen unter 25 Jahren abgeschafft werden;
d) dass eine Freiwilligkeit der Teilnahme bei Maßnahmen der geförderten Beschäftigung vorausgesetzt wird;
e) bei Terminversäumnissen ist der Fokus auf die Ursachen zu legen statt Sanktionierung;
f) für ein fair berechnetes, menschenwürdiges Existenzminimum und damit für eine Erhöhung der Regelsätze. Hierbei ist ein Verfahren unter Einbindung der Sozial- und Wohlfahrtsverbänden zu entwickeln, das insbesondere Verzerrungen durch das Problem der „verdeckten Armut“ und das Herausrechnen einzelner Bedarfspositionen, die der sozialen Teilhabe dienen, ausschließt und das tatsächliche Existenzminimum ermittelt.
3. Die Bürgerschaft (Landtag) fordert den Senat auf, bis zur bundesweiten Änderung der Rechtslage und darüber hinaus darauf hinzuwirken, dass bei den Jobcentern im Land Bremen Ermessensspielräume im Sinne dieser Ziele zugunsten der Leistungsempfänger*innen genutzt werden.
4. Der Senat soll der Bürgerschaft (Landtag) binnen sechs Monaten nach Beschlussfassung berichten.
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